Management: Wertschöpfung im Handel


Immer wieder treten auch etablierte Handelsunternehmen trotz profunder Erfahrungen im Management unfreiwillig aus dem Markt, während andere Unternehmen nachhaltig am Markt erfolgreich sind. Was machen diese Händler anders?

Das übergeordnete Ziel aller Unternehmen ist es, Wert zu schaffen und Wert zu schöpfen. Um das eigene Ergebnis zu maximieren, streben Händler danach, die eigenen Kosten möglichst stark zu senken und gleichzeitig Preise und Absatzmengen zu steigern oder, anders ausgedrückt: ihre Wertschöpfung (Summe der Erlöse vermindert um die Vorleistungskosten) zu optimieren. Eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung hierfür stellt die Wertschätzung für das Angebot aus der Sicht der Kunden dar: Je größer der Mehrwert der bezogenen Leistungen aus Kundensicht ist, desto höher fallen auch Preisbereitschaft und Loyalität aus. Ist der Mehrwert für den Kunden hingegen nicht hinreichend gegeben, wandert dieser zum Wettbewerber ab, und das Unternehmen kann langfristig nicht am Markt bestehen.

Gerade in der Handelsbranche, welche von sich kontinuierlich ändernden Kundenbedürfnissen, technologischen Entwicklungen und wettbewerbsspezifischen Marktgegebenheiten geprägt ist, stellt die stetige Neuorientierung eine große Chance und eine ebenso große Herausforderung dar. Wertschöpfung muss laufend neu gedacht werden, da es nicht das eine Konzept gibt, welches dauerhaft angewandt langfristigen Erfolg verspricht. Ein prominentes Beispiel ist der insolvente Handelskonzern Schlecker, der sein langjähriges Vertriebskonzept viele Jahrzehnte einsetzte, ohne es den veränderten Kundenbedürfnissen anzupassen und somit schlussendlich vom Markt verschwand.

In der klassischen Sichtweise wird der Handel als Institution angesehen, welche als Bindeglied zwischen Hersteller und Kunden fungiert. Diese reine Mittlerfunktion gerät allerdings immer weiter unter Beschuss. Gründe hierfür sind die fortschreitenden technologisch bedingten Veränderungen innerhalb der Handelslandschaft. Mit dem Internet entstanden nicht nur eine Vielzahl neuer Vertriebs- und Kommunikationswege, digitale Produkte, Services und Vertriebsstrategien, sondern auch das Konsumentenverhalten hat sich grundlegend verändert. Die durch das Internet bedingte Reduktion der Informationstransaktionskosten (in anderen Worten, alle Marktteilnehmer kommen heute schneller und günstiger an bessere Information), die entstehenden Netzwerkeffekte sowie der umfassende mobile Datenzugang bedingen dieses veränderte Verhalten und führen zu neuen Verbraucherbedürfnissen, denen der Handel Rechnung tragen muss.

Eine mögliche Erfolg versprechende Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen ist die Verschiebung der Wertschöpfungsaktivitäten zwischen den Akteuren der Wertschöpfungskette. War die Rolle des Handels früher noch strikt von der Rolle des Herstellers und der des Kunden abgegrenzt, verschwimmen heute die Grenzen zusehends. Ein Beispiel für diese Funktionenverschiebung ist Hugo Boss. Das ursprünglich im Großhandel angesiedelte Modeunternehmen vertreibt seine Ware immer mehr direkt über die eigenen Filialen und nicht mehr allein über das Händlernetz. Jetzt schon generiert Hugo Boss 50 Prozent des Umsatzes über die eigenen Geschäfte.

Handelsunternehmen sind aus funktionaler Sicht in der Lage, ihre Wertschöpfung zu vergrößern, indem sie beispielsweise Aufgaben des Herstellers übernehmen und / oder Kunden beziehungsweise spezialisierte dritte Parteien in den Wertschöpfungsprozess einbinden. Diese Aufgaben können Logistikfunktion, Sortimentsfunktion, Informationsfunktion, Transaktions- / Bezahlfunktion und Dienstleistungsfunktion umfassen.

Die Informationsfunktion, als ganz zentrale Funktion des Handels vor dem Produktkauf, wird zum Beispiel vom Kunden mithilfe des Internets immer häufiger selbstständig ausgeführt. Ganz wichtig allerdings: Jeder Marktteilnehmer erwartet auch eine Kompensation für die Funktionen, die er übernimmt. Kunden, die sich vor dem Kauf eines Produkts selbst informieren und keine Beratungsleistung eines Verkäufers in Anspruch nehmen, erwarten im Gegenzug meist auch einen günstigeren Preis. In einer im Kontext des Institut für Handelsforschung (IFH) qualitativen Befragung von Handelsexperten des gehobenen und Topmanagements konnten fünf zentrale Implikationen auf die Wertschöpfungskette abgeleitet werden.

Erstens: Die Strukturen in der Wertschöpfungskette werden immer diffuser. Die Handelswelt wird zunehmend schnelllebiger und komplexer. Die Unschärfen in der Wertschöpfungskette werden in Zukunft noch weiter zunehmen. Der Wettbewerb lässt sich somit auch nicht mehr an klassischen Handelsdefinitionen festmachen. Immer wieder tauchen neue Player auf, die ihr eigenes Denken mitbringen und den Markt prägen. Die Eintrittsbarrieren werden hierbei immer weiter sinken. Um am Markt bestehen zu können, müssen Händler einen Zusatznutzen für den Verbraucher schaffen – beispielsweise in Form eines Einkaufserlebnisses oder durch die Integration sozialer Aspekte.

Zweitens: Der Kunde wird integrativer Bestandteil der Wertschöpfungskette. Kunden sind heute nicht mehr auf die Beratung der Händler angewiesen, sondern versorgen sich sehr einfach selbst mit Informationen zu Produkten, Verfügbarkeiten und Preisen. Durch das mobile Internet haben Kunden jederzeit und überall Zugang zu den gewünschten Informationen. Der Handel hat somit keine Informationshoheit mehr, und Kunden werden in Zukunft nicht mehr dazu bereit sein, für Informationen zu zahlen.

Drittens: Komplexität und Geschwindigkeit erhöhen sich. Online-Pure-Player wie Amazon agieren effizient – der stationäre Handel muss daher seine Prozesse neu definieren, um mithalten zu können. Dennoch ist für erfolgreiche (technische) Innovationen die Kapitaldecke bei vielen klassischen Händlern zu dünn. Die Komplexität wird auch zukünftig weiter zunehmen und die Herausforderung, Trends schnell und sicher abzugreifen, wird immer höher.

Viertens: Erfolgreiche Konzepte werden immer von einer klaren Markenidentität begleitet. Händler bekommen mithilfe einer starken Markenidentität ein Gesicht. So können Produkte weniger leicht durch Angebote der Konkurrenz ausgetauscht werden. Kunden sind darüber hinaus bereit, mehr zu zahlen, wenn sie dem Händler vertrauen. Für den stationären Handel wird die Emotionalisierung in Zukunft eine wichtige Chance sein.

Fünftens: Der Anpassungsprozess wird durch eine offene Organisation unterstützt. Stationäre Händler müssen ihre Komfortzone verlassen und sich neu definieren. Gründer und Eigner müssen bereit sein, ihr ursprüngliches Konzept gegebenenfalls auch radikal anzupassen. Dabei lassen sich mit Kooperationen komplexe Netzwerke besser abbilden, um so auch eigene Schwächen auszugleichen beziehungsweise das Tempo zu erhöhen.

Die Handelswelt wird zunehmend komplexer und die Kundenansprüche steigen stetig weiter. Das Internet hat das Konsumentenverhalten erheblich verändert und den Handel mit einer neuen Marktsituation konfrontiert. Vor diesem Hintergrund sind Händler gezwungen, neue Wege zu beschreiten, um dem Kunden einen echten Mehrwert zu bieten. Daher sollten Einzelhändler durch die Einbindung der Konsumenten diesen eine bessere Entscheidungsqualität bieten sowie eine starke Marke aufbauen, die von Verbrauchern als vertrauenswürdiger Partner wahrgenommen wird. Außerdem kann durch das Schaffen eines Einkaufserlebnisses zusätzlicher Nutzen für den Kunden generiert werden. Eine Frage, die sich jeder Händler in diesem Zusammenhang stellen sollte, ist, ob die notwendigen Veränderungsprozesse schrittweise umgesetzt werden können oder diese eine radikale Umgestaltung erfordern. In jedem Fall ist es zwingend notwendig, dass sich Handelsunternehmen den strukturellen Veränderungen stellen und lernen, mit den daraus resultierenden Herausforderungen umzugehen.


Autor
Prof. Werner J. Reinartz
Direktor
IFH Institut für Handelsforschung
Köln

 
IHK WirtschaftsForum
August 2014